Vorwort

Nach zwei ausführlichen Kapiteln über den Stimmstock im Streichinstrument ist es nun an der Zeit, ein Vorwort zu schreiben.

Warum konzentriere ich mich so auf dieses kleine „Organ“ im Inneren der Geige, ein Holzstäbchen von etwa 6 mm Durchmesser, 6 cm Länge und einem Gewicht von Bruchteilen eines Gramms - kann das so wichtig sein?

Selbstverständlich sehe ich die Geige als ein Gesamtkunstwerk, ich weiß, daß jedes Instrument einen eigenen, unverwechselbaren Charakter besitzt.
Diesen Charakter, die spezielle Klangfarbe und das Tonvolumen, kann man nicht grundlegend verändern.

Der Musiker macht aber häufig die Erfahrung, daß das Instrument, welches er unter vielen anderen Angeboten ausgewählt und wegen seiner besonderen Vorzüge erworben hat, allmählich „nachläßt“:

Die Ansprache verschlechtert sich, bei der Violine zuerst auf der D-Saite, die tiefen Töne werden matter, beim Cello klingt mit der Zeit die A-Saite schärfer und heller, und insgesamt verliert das Instrument an Glanz und Tragfähigkeit.

Hat man also das falsche Instrument ausgesucht, ist die Geige vielleicht krank, zu dünn gebaut oder schlecht repariert, ist das Wetter schuld - woran liegt es, daß so viele Instrumente gute und schlechte Tage haben, einige aber auf Dauer so nachlassen, daß der Spieler die Lust verliert?

In seinem Buch „Die Grundlagen der Geige und des Geigenbaues“ geht André Roussel dieser Frage analytisch nach.
Er untersucht jedes der vielen Einzelteile der Geige und kommt zu dem Schluß, daß jedes Teil mitverantwortlich für den Klang ist, und daß man nicht ohne Folgen für Ansprache, Volumen und Timbre einzelne Teile wechseln oder verändern kann.

Diese Erkenntnis kann man sich bei Reparaturen zunutze machen, wenn man die Zusammenhänge kennt:

Ein Streichinstrument besteht aus mindestens 3 Holzsorten: Fichte, Ahorn und Ebenholz, bei vielen Instrumenten kommen noch Linde, Weide, Buchsbaum oder Palisander hinzu, bei manchen wird das Ahornholz durch Buche oder Pappel ersetzt.

Alle diese Hölzer haben unterschiedliche mechanische Eigenschaften, weil sie in ihrem Zellaufbau unterschiedliche Dichte aufweisen. Das ist akustisch erwünscht, und das leichte, aber in Längsrichtung extrem belastbare Fichtenholz ist durch kein anderes Material zu ersetzen.

Nun unterscheiden sich aber die verschieden Holzteile nicht nur durch ihre Herkunft, viel wichtiger ist, daß alle bekannten Schnittrichtungen des Holzes und alle vorstellbaren Leimverbindungen im Geigenbau verwendet werden, also nach dem Spiegel oder nach der Schwarte geschnitten, Hirnholzteile werden mit Spiegel oder Schwarte verleimt, ein Zargenkranz, der seinen Umfang niemals ändern kann, wird mit Decke und Boden verleimt, obwohl diese das Bestreben haben (und es natürlich durchsetzen!), sich in der Breite durch Trocknung zusammenzuziehen.

Dazu kommt die Dauerbelastung durch den Saitenzug, die im Laufe der Jahre bei fehlerhaft gebauten Instrumenten zu massiven Wölbungsveränderungen führt.

Die „Erfinder" der Geigenfamilie haben also durch Konstruktion und Wahl der Materialien den Beruf des Restaurators mit erschaffen - ohne regelmäßige Pflege durch einen Fachmann „funktioniert“ ein Streichinstrument nicht über lange Zeit.

Welche Veränderungen an einem Instrument auftreten können, sieht der Musiker teilweise selbst: Leimstellen, die sich lösen, Risse, die sich plötzlich ohne erkennbare Ursache bilden, gelockerte Hälse oder lose Griffbretter sind nicht zu übersehen.

Eine regelmäßig auftretende Veränderung aber sieht man nicht: Die Wölbung der Instrumente, beim Bau mit Hobel und Stecheisen aus dem vollen Holz herausgearbeitet, ist nicht stabil, Holz arbeitet, es kann sich verziehen, es schwindet in der Breite, weil die Jahresringe sich durch Trocknung zusammenziehen.

Durch die Veränderung der Wölbung ändert sich auch der Abstand von Decke und Boden, und nahe dem höchsten Punkt der Wölbung steht innen die Stimme - sie aber bleibt in ihrer Länge absolut gleich.

Die Folge ist eine reaktive Änderung des Stimmdrucks, jener Vorspannung, mit der die Stimme eingepaßt wurde.

Gleichzeitig verändert sich die Passung: Decke und Boden sind ja mit den Zargen verleimt, wenn sich die Wölbung ändert, dann ändert sich auch der Winkel dieser Platten, und er stimmt nicht mehr dem Winkel der Stimmflächen überein.

Das kann man erst sehen, wenn man die Besaitung entspannt; ein Geigenbauer fühlt es vor allem, wenn er die Stimme mit dem Stimmsetzer vorsichtig bewegt.

Wie danach zu verfahren ist, warum meist eine neue Stimme angefertigt und eingepaßt werden muß, habe ich im ersten Kapitel erklärt.

Dieses Vorwort soll helfen, zu verstehen, warum ausgerechnet der Stimmstock so viel Aufmerksamkeit benötigt.

Kein anderes Einzelteil der Geige ist weniger wichtig, aber kein anderes ist auch so betroffen von den ganz normalen Veränderungen, die in jedem Instrument aus Holz ablaufen.

Peter Vogler, im März 2001