Über den Stimmstock

2. Kapitel: Der Standort im Instrument


Im vorigen Kapitel über die Stimme habe ich den Standort im Inneren der Geige erwähnt, aber nicht näher erörtert. In der Literatur über Geigenbau und Reparatur der Streichinstrumente werden die Funktion und die Position der Stimme aber meist sehr kurz und oberflächlich abgehandelt.

Die Angabe der Entfernung der Stimme vom Steg schwankt zwischen 5-6 mm und „direkt hinter dem Steg“ bei der Geige; für Cello oder Viola gibt es kaum Angaben.

Dafür werden aber den Veränderungen dieses Abstands enorme klangliche Auswirkungen zugeschrieben, immer ohne den geringsten Hinweis darauf, daß sich beim Rücken der Stimme mit dem Stimmsetzer zwangsläufig der früher erwähnte Stimmdruck ändert.

Um zu verstehen, warum die Position des Stimmstocks im Streichinstrument wichtig ist, warum man sie aber nicht beliebig variieren kann, müssen wir uns zuerst mit der Konstruktion der Geige beschäftigen,

Die Klangübertragung von den schwingenden Saiten auf die Decke spielt sich nicht ohne Grund hauptsächlich in einem sehr kleinen Bereich innerhalb der so genannten f - Löcher ab:

An dieser Stelle ist die Decke sehr beweglich. Bis auf den mittleren Bereich (ca. 4 cm bei der Geige, beim Cello etwa 9-10 cm) sind die in Längsrichtung der Geigendecke verlaufenden Jahresringe von den f - Löchern unterbrochen.
 

Die Jahresringe des Fichtenholzes bestehen aus der harten Winter- und der weichen Frühlingsschicht, sie verleihen der Decke eine statische Tragfähigkeit, die keine noch so harte andere Holzart erreicht.
Will man die Schwingungen der Saiten über den Steg auf die Decke möglichst verlustfrei übertragen, muß das auf diesem unversehrten Mittelstreifen der Decke geschehen.

An den Rändern der f - Löcher entstehen dann sehr intensive Schwingungen, die sich wellenförmig über die Decke ausbreiten.

Würde man den Steg so breit machen, daß er über den durchgehenden Mittelstreifen reicht, könnte er diese Schwingungen bereits wieder dämpfen.

Nun soll der Stimmstock Schwingungen der Decke (welche, wird noch zu besprechen sein) auf den Boden übertragen.

Für ihn gilt der gleiche Grundsatz:

Zunächst muß er innerhalb der Deckenfläche stehen, bei der die Jahresringe durchgehend erhalten sind. Im Idealfall hat der Steg die Breite dieser Fläche, und der Stegfuß auf der Stimmseite kann dann Schwingungen über das Deckenholz auf die Stimme übertragen.

Nun hat es sich aber nicht bewährt, die Stimme direkt unter den Steg zu setzen, obwohl das ja statisch naheliegend wäre.

Man stellt sie etwas entfernt in Richtung Saitenhalter, und genau dieser kleine Abstand ist Gegenstand aller Diskussionen bei Musikern und Geigenbauern.

Was bewirkt dieser Abstand nun wirklich, und vor allem, wie groß soll er sein?

Es leuchtet ein, daß die Schwingungen der Decke unmittelbar am Steg am intensivsten sind; würde man die Stimme direkt unter den Steg stellen, wäre eine Bedämpfung dieser Schwingungen die Folge, weil der Boden mit seiner großen Masse nicht schnell genug folgen kann.

Ein Streichinstrument klingt auch ohne Stimmstock, zwar anders, etwas hohl, sehr verhallt, aber laut; das heißt, die hörbaren Klangschwingungen entstehen vor allem in der Decke, und diese sollte möglichst frei schwingen können.

Setzt man den Stimmstock etwas entfernt vom Steg, dann wirkt dieser kleine Teil der Decke wie eine Feder; einerseits wird durchaus genügend Schwingungsenergie auf den Boden übertragen, andererseits ist die Decke bereits in Schwingung, ehe sie einen Teil der Energie über die Stimme an den Boden abgibt.

Ein zweiter Effekt dieser kleinen federnden Deckenfläche ist eine Filterwirkung:

Ein Teil der Frequenzen geht über diese winzige Strecke bereits durch Dämpfung und durch gegenphasige Bewegung einzelner Schwingungsfelder in der Decke verloren; dies betrifft vorwiegend die hohen Frequenzen. Der Geigen„ton“ ist ja ein komplexes Klanggemisch, in dem neben dem Grundton verschiedene Obertöne mitschwingen. Ein Teil dieser Obertöne aber stören unser Ohr, sie werden als Geräusche oder als Verfärbungen (nasaler, scharfer oder schriller Klang) wahrgenommen.

Aus all diesen Überlegungen geht vor allem eines hervor:

Den idealen Stimmstandort für alle Instrumente kann es nicht geben, und ihn in Millimetern anzugeben, ist nicht möglich.

In der Literatur gibt es (neben einer Menge unbrauchbarer Beschreibungen) zwei ernstzunehmende Angaben über das Setzen der Stimme, interessanterweise je von einem Geigenbauer und von einem Musiker.

August Riechers schreibt in seinem Buch „Die Geige und ihr Bau":

„... Der Stimmstock muß ferner in seiner normalen Stellung um die Dicke der Decke (nämlich 2,5 mm) von der hinteren Stegseite nach unten, d.h. nach dem Saitenhalter zu, gesetzt sein."

Der Geiger Louis Spohr gibt folgende Anweisung:

„... man zieht oder schiebt mit dem Eisen (gemeint ist der Stimmsetzer, P.V.) oben und unten so lange, bis die Stimme auf dem ihr zukommenden Platz steht, dieser ist in der Regel dicht hinter dem rechten Fuße des Steges, so daß sie sich mit ihrem vorderen Rande dem hinteren des Steges anschließt."

In der Praxis verwendet man heute beide Stellungen; in Europa dominiert die Ansicht von Riechers, bei der die (durchaus unterschiedliche) Deckenstärke als Maß für den Abstand dient.

Ein sehr stabil gebautes Instrument mit starker Decke benötigt einen größeren Abstand, als eines mit dünner oder einer sehr alten, stark reparierten Decke.

Die Meinung Spohrs dominiert in Amerika; ich kenne Geigenbauer, die sagen, daß diese kleine „Feder“, die durch einen definierten Abstand entstehen soll, in der Praxis oft deshalb wirkungslos bleibt, weil entweder das Holz durch Alterung stark verformt und dadurch verhärtet ist oder durch Fütterungen ohnehin keine Biegeschwingungen bzw. Filterungen mehr zustandekommen.

In jedem Fall ist, wie wir gesehen haben, der Spielraum für „Stimmrückungen" sehr begrenzt.

Wenn man die Spielerpersönlichkeit berücksichtigt, wird dieser Spielraum noch kleiner:

Ein Spieler, der vorwiegend mit hohen Bogengeschwindigkeiten, also großen Saiten-Amplituden arbeitet, wird eher mit einem etwas größeren Abstand zufrieden sein, weil das Instrument dann diese großen Amplituden besser unterstützt.

Der Musiker, der nahe am Steg und mit sehr unterschiedlichem Bogendruck bei geringeren Bogengeschwindigkeiten spielt, braucht diese großen Amplituden nicht, ist aber auf eine gute Belastbarkeit angewiesen; diese Bedingung erfüllt der stegnahe Standort am besten.

Zum Schluß noch ein Hinweis auf den Abstand der Stimme vom Baßbalken:

In den meisten Fällen wird man die Stimme nahe an die äußere Stegfußkante stellen, weil sie in jedem Fall die Bewegung des Balkens bedämpft, jedoch geringer, wenn sie weit genug vom Balken entfernt steht.

Über diese sehr komplizierten Wechselwirkungen zwischen Stimme und Baßbalken und ihre Auswirkungen auf den Klang der Streichinstrumente werde ich in einem späteren Kapitel berichten.

Peter Vogler, im März 2001