3. Kapitel: Über die Klangschwingungen

 In den beiden bisher vorliegenden Aufsätzen über den Stimmstock im Streichinstrument habe ich zunächst einige Probleme erörtert, mit denen der Musiker unweigerlich bei der klanglichen Entwicklung seines Instrumentes konfrontiert wird.
Kein Streichinstrument klingt Tag für Tag gleich, auch ein gut eingestelltes Instrument hat im Laufe der Zeit Perioden, in denen Ansprache und Tonvolumen nachlassen.
Die Gründe dafür habe ich erläutert, sie erklären sich aus der Konstruktion und ihrer Abhängigkeit von ständig wirkendem Saitenzug einerseits und den wechselnden klimatischen Einflüssen, also von Temperatur und Feuchtigkeit.

Mit dieser Betrachtungsweise, die sich auf die Statik des Geigenkörpers und deren Veränderungen konzentriert, kann man bereits gute Strategien entwickeln, mit denen der Geigenbauer klangliche Verschlechterungen rückgängig machen kann.

Interessanter wird es aber, wenn man sich zusätzlich überlegt, wie ein Streichinstrument schwingt, wie der Klang entsteht, wie er vom Resonanzkörper verstärkt und schließlich in den Raum abgestrahlt wird.
Erst dann versteht man, warum das Zusammenspiel aller Teile so wichtig ist und warum bereits ein kleiner Fehler an einer einzigen Stelle diesen Schwingungsverlauf nachhaltig stören kann.

Durch den Bogen wird die Saite zu einer transversalen Schwingung angeregt; bei einer gleichbleibenden Bogengeschwindigkeit und einem definierten Bogendruck auf die Saite entsteht eine sichtbare Amplitude, die einen hörbaren Schall erzeugt.

Der Schalldruck dieser Saitenamplitude ist jedoch zu klein, um musikalisch verwertbar zu sein, weil die Masse der Saite im Verhältnis zur Wellenlänge der erzeugten Frequenzen viel zu gering ist.
Die Energie dieser Amplitude aber reicht aus, um die relativ großen Flächen des Resonanzkörpers zu Schwingungen mit minimaler Amplitude, aber großer Intensität anzuregen.

Der Resonanzkörper ist bei allen Streichinstrumenten groß genug, um die erzeugten Resonanzschwingungen an die umgebende Luft abzugeben: Der Körperschall des Instrumentenkorpus wird so zu hörbarem Luftschall umgewandelt.
Wie aber geschieht die Übertragung der transversalen Saitenschwingung auf den parallel zur Saite liegenden Resonanzkörper?

Die Energie dieser waagerechten Schwingung zwingt den Steg zu Bewegungen, die senkrecht zur Saite und zur Decke verlaufen; die beiden Füße des Steges üben also im Rhythmus der Saitenschwingung abwechselnd Drücke auf die Decke aus und regen diese so zur Resonanz an.

Diese Energie ist so groß, daß man in den Steg herz- und kreisförmige Öffnungen einschneidet, die dafür sorgen, daß der Steg in sich federn und so einen Teil der zu übertragenden Schwingungen herausfiltern kann.

Man kann diese Filterwirkung beim Cello gut hören:

Dort gibt es zwei Stegmodelle mit sehr unterschiedlichen Ausschnitten, also mit unterschiedlicher Federwirkung; der Klangunterschied dieser Modelle wird ganz gezielt eingesetzt, um kleine klangliche Mängel auszugleichen oder um ein Instrument an die Vorstellung des Spielers anzupassen. Selbstverständlich wird ein Steg für Geige oder Bratsche auch nach diesen Gesichtspunkten geschnitten; durch größere oder kleinere Öffnungen läßt sich in gewissen Grenzen das Timbre beeinflussen.

Zurück zur schwingenden Decke:

Stellen wir uns eine Geige vor, bei der die F-Löcher noch nicht eingeschnitten sind, bei der die Decke also eine geschlossene Oberfläche hat. Eine derartige Decke hat eine enorme Stabilität; durch die Leimverbindung mit Zargen und Boden entsteht ein Hohlkörper, der nur als Ganzes schwingen kann, also auch nur für eine Frequenz eine Resonanz erzeugt.
Durch die Masse der Holzteile läge diese Resonanzfrequenz vermutlich unterhalb des tiefsten Tons der Geige, alle für den Spieler wichtigen Töne würden nicht oder nur wenig verstärkt.

Sobald die F-Löcher eingeschnitten werden, wird die Decke sehr beweglich; sie kann nun auch in Teilen schwingen, sie folgt den senkrechten Schwingungen der Stegfüße unmittelbar, weil der Steg etwa in der Mitte zwischen den F-Löchern steht, also auf dem beweglichsten Deckenteil.
Diese erhöhte Beweglichkeit der Decke hat aber zwei gravierende Nachteile:

1. Die unter den zwei Stegfüßen liegenden Deckenhälften schwingen entgegengesetzt, weil sich ja bei jeder Einzelschwingung ein Stegfuß nach oben, der andere nach unten bewegt. Diese entgegengesetzten, also gegenphasigen Schwingungen würden sich durch Überlagerung teilweise gegenseitig auslöschen, Resonanzlücken und ein Verlust an Klangvolumen wären die Folge.

2. Durch die Unterteilung der Decke durch die F-Löcher in eine obere und eine untere Hälfte ist die schwingende Fläche nicht mehr lang genug für die Verstärkung tiefer Töne.

Deshalb befinden sich innerhalb des Resonanzkörpers zwei wichtige „Organe“:

Der Baßbalken und der Stimmstock.

Der Nachteil der durch die F-Löcher erfolgten Unterteilung der Decke wird vom Baßbalken behoben; er verbindet obere und untere Deckenhälfte und macht sie so lang genug für tiefe Frequenzen. In italienischer Sprache heißt der Balken übrigens catena, die Kette, ein sehr guter Ausdruck für die verbindende Funktion dieser kleinen Holzleiste.

Das andere Problem, die gegenphasigen Schwingungen der beiden Stegfüße und der darunterliegenden Deckenhälften, wird durch die Stimme gelöst.

Erst das Zusammenspiel von Baßbalken und Stimmstock ermöglicht also überhaupt, daß man auf einem Streichinstrument eine Tonreihe vom tiefsten bis zum höchsten Ton in einer etwa gleichbleibenden Lautstärke spielen kann.

Diese Erkenntnisse sind noch nicht alt, erst Anfang der siebziger Jahre konnte man mit Hilfe holografischer Interferenzbilder die Schwingungen des Geigenkörpers sichtbar machen und so die Wirkungsweise von Stimme und Balken studieren.
Man fand heraus, daß je nach Frequenz der Schwingung unterschiedliche Schwingungsintensitäten (Schnellen) an beiden Stegfüßen auftreten, die auch jeweils verschiedene Deckenteile zum Mitschwingen anregen.

Nun verhindert der Baßbalken durch seine Masse, daß sich der darüber liegende Stegfuß bei hohen Frequenzen überhaupt bewegt, er hält ihn gleichsam fest. Dadurch wird die gesamte Energie der Saitenschwingung auf den über der Stimme liegenden Stegfuß geleitet, denn die Stimme ist klein und leicht und kann schnellen Schwingungen (also hohen Frequenzen) mühelos folgen.

Umgekehrt blockiert die Stimme bei tiefen Frequenzen den über ihr liegenden Stegfuß und sorgt so dafür, daß die gesamte Schwingungsenergie auf den Baßbalken übertragen wird.

Nun wird sehr deutlich, daß die Wechselwirkungen zwischen Steg, Stimme und Baßbalken außerordentlich kompliziert sind.

Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, daß der Baßbalken allein verantwortlich ist für die tiefen Töne und die Stimme für hohe Frequenzen.

Wir können aber, wenn wir die akustischen Funktionen der einzelnen Teile der Geige verstanden haben, ganz gezielt nach den Ursachen für klangliche Mängel suchen.


Ein Nachtrag zu allen 3 Kapiteln:

Selbstverständlich hat auch der Baßbalken eine statische Funktion.

Er versteift die Decke in Längsrichtung und gibt ihr so die Stabilität, den über Hals und Untersattel wirkenden Saitenzug auszuhalten.

Außerdem wird der Balken mit einer gewissen Vorspannung eingeleimt, die die Decke in der Mitte leicht anhebt; diese Vorspannung wirkt dem über den Steg auf der Decke lastenden Saitendruck entgegen.

Eine Parallele dazu haben wir bereits bei der Stimme gesehen:
Auch sie wird mit einer Vorspannung eingesetzt, die dem Saitendruck entgegenwirken soll.

Nun hat aber diese Vorspannung bei Stimme und Balken auch wieder eine direkte akustische Funktion, da sie der Gefahr gegenphasiger Schwingungen entgegenwirkt.

Wenn man also bei einem schlecht ansprechenden Instrument den Stimmdruck erhöht, entweder durch Erneuerung des Stimmstocks oder durch eine Korrektur der Stellung, kann das positive Auswirkungen auf die tiefen Frequenzen haben!

Ebenso kann ein stärker vorgespannter Baßbalken neben der Wirkung auf die tiefen Frequenzen gerade auch den Glanz und die Ansprache der oberen Saiten verbessern.

Berlin, im April 2001