Anmerkungen zum Geigenklang

1. Kapitel: Probleme mit dem Stimmstock

 

Musiker, die ein Streichinstrument spielen, sind selten über längere Zeit mit diesem zufrieden. Mal ist die Ansprache schlechter, mal wird der Klang spitz oder scharf, oft stören plötzlich auftretende Klirrgeräusche. Die Cellisten leiden besonders unter den berüchtigten Wolftönen auf der G-Saite, die ihre Intensität und auch gelegentlich ihre Tonhöhe ändern.

Fast immer ist umgehend ein Besuch beim Geigenbauer angesagt; dieser soll schnell, möglichst in einer einzigen Sitzung, den ursprünglichen Klang wieder herstellen und alle im Laufe der Zeit entstandenen Beeinträchtigungen der Spielbarkeit beseitigen.
Obwohl bei diesen „Klangregulierungen" mit dem Stimmsetzer oftmals sehr deutlich hörbare Veränderungen erreicht werden, sind die Ergebnisse meist kurzlebig und die Enttäuschung nach wenigen Tagen groß.

Wo liegen die Ursachen dieser Mißerfolge?

Zunächst in der Verständigung zwischen Musiker und Geigenbauer.
Der Geigenbauer ist auf eine präzise Fehlerbeschreibung angewiesen; der Musiker aber fühlt die Mängel im Klang und in der Ansprache mehr, als er sie hört, er kann deshalb nur andeutungsweise ausdrücken, was ihn stört.

Außerdem hört der Spieler anders als seine Zuhörer; ein großer Teil der Schallenergie bei der Geige (aber auch beim Cello auf dem Weg über die Schnecke) wird beim Spieler über die Knochen des Kopfes direkt zum Innenohr geleitet. Dabei gelangen vor allem die hohen Frequenzen ungedämpft zum Ohr, Frequenzen, die wegen ihrer kurzen Wellenlänge im normalen Raum schon nach wenigen Metern stark gedämpft sind und kaum noch zum Klanggeschehen beitragen.

Der zweite wichtige Grund liegt in der irrigen Annahme, daß allein der Standort der Stimme verantwortlich für den Klangverlust oder all die anderen Fehler ist. Warum aber sollte dieser Standort, der sich doch über längere Zeit bewährt hat, plötzlich ungünstig oder falsch sein?

Die wirkliche Ursache liegt in der Konstruktion der Streichinstrumente an sich.
Eine Geige besteht nicht nur aus verschiedenen Holzarten, die auf klimatische Veränderungen (vor allem Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen) unterschiedlich reagieren. Diese Hölzer sind auch noch nach ganz verschiedenen Schnittrichtungen aus dem Stamm gesägt worden, sie haben unterschiedliche Stärken, und vor allem sind sie auf der Oberseite lackiert, also versiegelt, innen jedoch meist unbehandelt.
Da Holz aus der Luft Feuchtigkeit aufnehmen kann, dies jedoch nur über die unbehandelten Innenflächen geschieht, ändern sich die Wölbungen von Decke und Boden ständig. Dadurch entstehen zunächst Spannungen, da die einzelnen Holzteile ja mit einander verleimt sind.
(Jeder Musiker weiß, daß bei trockener Raumluft an den Instrumenten plötzlich offene Fugen auftreten, im schlimmsten Fall, wenn die Leimverbindungen an den Fugen zu solide sind, sogar Risse.)
Diese Spannungen verschlechtern die Ansprache und bewirken oft ein schärferes oder dünneres Klangbild, weil sie zu einer Versteifung des Resonanzkörpers führen und die Schwingungen behindern.

Die Hauptursache für die meisten Klangveränderungen ist jedoch die Tatsache, daß jede Änderung der Wölbung von Decke oder Boden sich sofort auf den Kontakt des Stimmstocks auswirkt.

Zunächst ist es einleuchtend, daß eine Erhöhung der Wölbung dazu führt, daß der Stimmstock lockerer zwischen Decke und Boden sitzt, viele Musiker haben schon erlebt, daß er umfiel, wenn die Saiten entspannt wurden.
Die Stimme wird aber so eingepaßt, daß sie einen Teil des Saitendrucks, der über den Steg auf die Decke wirkt, abfangen und auf den Boden ableiten kann. Gleichzeitig wird durch diese Vorspannung, über die übrigens in der Literatur unterschiedliche Angaben gemacht werden, die Übertragung der Klangschwingungen über die Stimme auf den Boden verbessert.

Zusätzlich zu diesem Problem mit der relativen Länge der Stimme entsteht ein weiterer Fehler: Wenn die Wölbungen von Decke und Boden sich ändern, ändern sich auch die Winkel der Innenflächen, an die die Stimme ursprünglich angepaßt wurde.
So wird ein einstmals genau passender Stimmstock nicht nur allmählich zu kurz, er paßt auch nicht mehr, und durch eine Korrektur des Standortes sind diese Veränderungen meist nicht zu beheben.

Es kommt, wenn auch seltener, vor, daß sich die Wölbung des Bodens verringert; besonders bei niedrigen Außentemperaturen, die eine niedrige Luftfeuchtigkeit in Innenräumen zur Folge haben, können sich die Zellen des Bodenholzes zusammenziehen, so daß der Stimmstock zu fest steht. Die klanglichen Folgen sind identisch mit denen, die durch einen zu kurzen Stimmstock entstehen:
In beiden Fällen wird die Schwingungsfähigkeit der Decke eingeschränkt; im ersten Fall dämpft der Steg die Decke wegen der fehlenden Stützung durch den Stimmstock, im zweiten dämpft oder blockiert die Stimme die Decke durch einen zu großen Gegendruck.
(Das unerreichbare Ideal wäre ein Stimmdruck, der genau den Druck des Steges ausgleicht, so daß die Decke frei schwingen kann!)

Wenn es die Terminpläne von Musiker und Geigenbauer erlauben, sollte also unbedingt eine neue Stimme angefertigt und eingepaßt werden.
Diese Arbeit erfordert viel Erfahrung und Geschick, sie benötigt auch Zeit; die alte Stimme hat an ihrem Standort Abdrücke im Holz von Decke und Boden hinterlassen, die beseitigt werden müssen, damit man die neue Stimme sauber einpassen kann. Vielleicht war sogar der Standort vorher wirklich nicht optimal, und man kann mit einer Veränderung eine generelle Verbesserung erzielen.

Wichtig zu wissen ist jedoch, daß eine Stimme jeweils nur an dem einen Ort genau paßt und die richtige Spannung hat, für den sie der Geigenbauer angefertigt hat. Jede Korrektur der Stimmstellung erfordert eine Neuanpassung oder sogar eine Erneuerung des Stimmstocks, und das Klopfen mit dem Stimmsetzer, womöglich bei voller Saitenspannung, sollte der Vergangenheit angehören.

 

Berlin, im Februar 2001